Karl De Smedt leitet die weltweit einzige Sauerteig-Bibliothek im belgischen St. Vith. Er hat Sauerteigbäcker in der ganzen Welt besucht und gibt hier Auskunft über seine Leidenschaft für Sauerteig.

Der gelernte Bäcker-Patissier-Chocolatier Karl Der Smedt ist seit Jahren fasziniert von der Vielfalt der Sauerteige. Nr. 72 ist ein Sauerteig aus Mexiko, Nr. 74 stammt von der Bäckerei Arnold in Simplon-Dorf (VS).

Karl De Smedt nennt sich selbst «Der Sauerteig-Bibliothekar». Der Leiter der Weinheimer Brotakademie, Bernd Kütscher, bezeichnet ihn als den «Guru des Sauerteigs». «panissimo» wollte mehr über ihn, seine Leidenschaft für Sauerteig und die Sauerteig-Bibliothek von Puratos in St. Vith (B) erfahren.

Wie sind Sie der Sauerteig-Bibliothekar geworden?
Im Alter von zehn Jahren wusste ich bereits, dass ich Konditor werden wollte. Nach meiner Ausbildung zum Bäcker-Patissier-Chocolatier sowie Eis- und Süsswarenhersteller arbeitete ich sechs Jahre lang in einer Patisserie in Brüssel. Ich hatte die Möglichkeit, diese zu kaufen, aber meine Frau wollte nicht, dass ich dieses Abenteuer eingehe. So arbeitete ich ab 1994 für Puratos.

Ich habe als Versuchsbäcker angefangen. Dabei hatte ich den ersten Sauerteig entdeckt. Er wurde von einem Kollegen aus San Francisco (USA) mitgebracht. Nach 1½ Jahren Testbacken wurde ich bei Demonstrationen eingesetzt. Eine Mehlallergie veranlasste mich, meine Aktivitäten bei Puratos zu ändern. Ich begann Schulungen für Mitarbeitende und Kunden zu geben. 2008 hatte ich die Gelegenheit, die Leitung des heutigen «Center for Bread Flavour» (Zentrum für Brotgeschmack) zu übernehmen. Das ist ein Ort, den Bäcker aus der ganzen Welt besuchen, um mehr über Sauerteigfermentation zu erfahren. Hier eröffneten wir 2013 auch die weltweit erste und einzige Sauerteig-Bibliothek. Wie Sie sehen können, war mein Arbeitsleben eine Kette von Zufällen und Ereignissen, die sich einfach ergeben haben.

Was sind Ihre Aufgaben als Sauerteig-Bibliothekar?
Hauptsächlich jede Art von Fragen zu beantworten, die uns über Sauerteig gestellt werden. Ich bin zur Anlaufstelle geworden. Ich glaube, deshalb werde ich auch «Guru des Sauerteigs» genannt. Zu meiner Arbeit gehört ausserdem das Suchen und Sammeln von verschiedenen Sauerteigsorten, um die Artenvielfalt in unserer Sauerteig-Bibliothek zu erhalten.

Zudem nehme ich an Konferenzen, Kongressen und Gipfeltreffen teil oder bin Jurymitglied von Wettbewerben. Ich unterrichte «Masterclasses» in Trainingszentren in den USA und in Singapur und bin immer noch an der Schulung von Kundinnen und Kunden sowie Mitarbeitenden von Puratos beteiligt. Hin und wieder bekomme ich Anfragen von Medienschaffenden. Derzeit nehme ich aufgrund der Covid-Situation auch an Webinaren teil. Dazu kommen meine Aktivitäten auf den sozialen Medien, @the_sourdough_librarian auf Instagram für Personen, die Infos zum Sauerteig und zur Bibliothek wollen.

Sie haben Sauerteigbäcker in aller Welt besucht und gefilmt. Was war Ihre unge­wöhnlichste Begegnung?
Ich habe tatsächlich fantastische Orte besucht. In der Türkei habe ich zum Beispiel entdeckt, dass der Sauerteig mit Wassertropfen hergestellt wird, die sich am frühen Morgen des ersten Frühlingstags auf dem Getreide bilden. Diese Tropfen werden eingesammelt und zum Ansetzen des Sauerteigs verwendet.

«Der Sauerteig ist zurückgekehrt und wird ein wichtiger Bestandteil im Brot bleiben.»
Dann besuchte ich eine Bäckerei in den Bergen, in der die Brote während vier Stunden in einem Holz­ofen gebacken werden. Bei einem Beispiel in Griechenland wird der Sauerteig auf Basis eines mit Basilikum kontaminierten Oberteils hergestellt. Ich habe einen Sauer­teig auf Basis von gekochtem Reis entdeckt, aus dem ein weiches Brötchen mit einer Füllung aus roter Bohnenpaste hergestellt wird. Ich habe noch eine Fülle von Geschichten mit Videos dokumentiert. Diese sind auf der Webseite questforsourdough.com zu finden.

Die in der Sauerteig-Bibliothek gelagerten und gepflegten Sauerteige dienen der Forschung und zudem als Backup.
Haben Boden (Getreide) und Wasser einer Region einen Zusammenhang mit den verschiedenen Bakterien in einem Sauerteig?
In der Bibliothek haben wir mehrere Arten Sauerteig aus demselben Land. Doch keine zwei Sauerteige sind gleich. Die Felder, von denen das Mehl stammt, verleihen ihnen unterschiedliche Eigenschaften. Hatte der Boden mehr oder weniger Wasser, wird der Sauerteig konsistenter oder flüssiger. Hat es in der Bäckerei, in der er hergestellt wurde, Hefesporen, wirkt sich dies auf den Sauerteig aus. Heute können wir sagen, dass jeder Sauerteig einzigartig ist – abhängig von den Zutaten, vom Entstehungsort, vom Klima, vom Bäcker und von der Art der Pflege.

In letzter Zeit zeigen die Bevölkerung und die Fachleute mehr Interesse an Sauerteig. Was ist Ihre Erfahrung und was erwarten Sie für die Zukunft?
Ich glaube, dass der Sauerteig wieder Eingang in die Bäckerwelt gefunden hat. Er wurde während Jahrhunderten in der ganzen Welt zur Brotherstellung eingesetzt. Wir haben diese unglaubliche Zutat aus den Augen verloren, als im 19. Jahrhundert die kommerzielle Hefe Einzug gehalten hat. In den letzten 30 Jahren wurde Sauerteig Schritt für Schritt wieder eingesetzt, vor allem wegen seiner Wirkung auf den Brotgeschmack.

Heute ist man sich bewusst, dass es um mehr als um den Geschmack geht. Verschiedene aktuelle wissenschaftliche Studien belegen, dass Sauerteig sich positiv auf das Wohlbefinden und die Gesundheit auswirkt. Die Nährwerte von Sauer­teigbrot sind besser als bei nur mit Hefe hergestellten Broten. Das hilft den Bäckern, ihre Brote gegenüber der Kundschaft noch besser zu positionieren. Heute wage ich zu behaupten, dass der Sauerteig zurückgekehrt ist und ein wichtiger Bestandteil im Brot bleiben wird.

«Das Beherrschen der Fermentation ist der Schlüssel zur Qualität des Endprodukts.»

Was sind die häufigsten Fehler im Umgang mit Sauerteig, und wie kann man diese vermeiden?
Einen Sauerteig herzustellen ist einfach. Es braucht vor allem Wasser und Mehl. Aber in all dieser Einfachheit steckt die Komplexität. Die Mikrobiologie des Sauerteigs ist etwas Unglaubliches. Änderungen in der Temperatur können einen anderen Geschmack hervorrufen, der von Milch- bis zu Essigaroma reicht. Und dies kann einen grossen Einfluss auf die Krume, den Geruch und den Geschmack des Brotes haben. Wie bei allen fermentierten Produkten – sei es bei Käse, Wein, Bier oder Schokolade – ist das Beherrschen der Fermentation der Schlüssel zur Qualität des Endprodukts. Das Schwierigste beim Sauerteig ist, ihm eine Konstanz in Geschmack und Fermentationsstärke zu geben. Dafür offeriert Puratos jeden Tag im Jahr Qualitätsprodukte, die es den Bäckern ermöglichen, sich auf die Brotherstellung zu konzentrieren, ohne sich um die Komplexität des Sauerteigs kümmern zu müssen.

Welche wichtigen Tipps können Sie Fachleuten sonst noch geben?
Die Bäcker können ihren eigenen Sauerteig auf meiner Webseite questforsourdough.com registrieren. So weiss ich, dass er existiert – und vielleicht findet er in Zukunft einen Platz in der Sauerteigbibliothek. Auf dieser Webseite kann in den Videos auch gesehen werden, wie Sauerteig hergestellt, wie seine Säure gemessen wird und wie man ihn auffrischen kann usw.

Was raten Sie Bäckern, die nicht sicher sind, ob sie mit Sauerteig arbeiten sollen?
Wenn man sich die Geschichte der Menschheit anschaut, wurde bereits bei den Römern fermentiert. Ganze Imperien wurden auf der Basis von Brot aufgebaut. Die Soldaten wurden mit Brot bezahlt. Brot war in den letzten 5000 Jahren immer ein Grundnahrungsmittel und wird dies in den nächsten 5000 Jahren bleiben.

Fermentierung ist nichts Neues. Aber mit der Industrialisierung ging sie verloren. In Berufsschulen wird heute noch gelehrt, wie man in kürzester Zeit die maximale Menge an Brot herstellen kann. Das Problem ist, dass der Mensch anders als Kühe oder Ziegen kein Getreide verdauen kann. Wir müssen Lebensmittel essen, die fermentiert sind, denn das ersetzt einen Teil der Verdauung.

Das Schöne an der Fermentation ist, dass der Bäcker täglich zum Fermentationsspezialisten wird. Bei der Bier- oder Weinherstellung wird nur ein- oder mehrmals im Jahr fermentiert. Die höchste Stufe der Fermentation ist die Pflege des Sauerteigs.

Was fehlt Ihrer Ansicht nach, dass Top-Bäcker die gleiche Anerkennung bekommen wie Spitzenköche?
Ein Chefkoch in der Küche schränkt sich nicht ein. In der Bäckerei ist das Aufrechterhalten der Tradition zwar eine gute Sache, aber aus meiner Sicht unser grösstes Hindernis. Wir sollten aus der Vergangenheit lernen, um die guten oder richtigen Entscheide für die Zukunft zu treffen. Wir brauchen Leute, die verrückte Dinge tun wollen, mit Techniken experimentieren, wie andere es in der kulinarischen Welt getan haben. Wir brauchen eine Evolution innerhalb der Bäckerei und müssen die Angst vor Innovationen verlieren.
Wenn man für ein grösseres Unternehmen wie Puratos arbeitet, dessen Einfluss auf die Bäckerwelt gross ist, fällt es einfacher, Veränderungen vorzunehmen. Indem wir das Sauerteigbrot und seinen Gesundheitswert in der ganzen Welt propagieren, verändert sich das Image von Brot auf positive Weise. Davon werden alle Bäcker profitieren. Diese Veränderung miterleben zu dürfen, macht mich unglaublich glücklich.

Die Sauerteig-Bibliothek

In der Sauerteigbibliothek von Puratos im belgischen St. Vith (siehe questforsourdough.com/de und sourdoughlibrary.puratos.com) lagern in zwölf Grosskühlschränken 134 Sauerteige aus 25 Ländern. Sie dienen der Forschung und zudem als Backup für die Bäckereien, deren Sauerteige dort gelagert sind. In Zusammenarbeit mit Professor Marco Gobbetti von der Universität Bari (I) analysierte und erforschte Karl

De Smedt bereits über 1500 Mikroorganismen. Auf Facebook und Instagram @the_sourdough_librarian postet De Smedt laufend Neuigkeiten. Alle Bäckereien und Konditoreien können ihren eigenen Sauerteig und seine Eigenschaften auf der erstgenannten Webseite registrieren. 2435 Sauerteige sind bereits dort eingetragen.

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