Angélique Jannuzzo, Ausbildnerin, Chef-Expertin und Filialleiterin der Bäckerei Au Vieux Grenier SA in Corminboeuf (FR), plädiert in diesem Beitrag «für eine faire, anspruchsvolle und zutiefst menschliche Ausbildung». Sie hat ausgezeichnete Erfahrungen damit gemacht.
In unseren Geschäften, im Herzen unserer Teams, spielen sich menschliche Geschichten ab, die tief gehen und manchmal unsichtbar sind. Natürlich gibt es die Handgriffe des Berufs, die Produkte, die hergestellt, gebacken, veredelt und verkauft werden müssen. Es gibt Kund/innen, die bedient werden müssen, Arbeitszeiten, die eingehalten werden müssen, und die täglichen Notfälle. Und mittendrin sind unsere Auszubildenden. Einige kommen voller Tatendrang und Träume, andere mit Ängsten und Zweifeln. Wieder andere schreiten mit Leichtigkeit und Geschick voran. Alle sind unterschiedlich, alle sind einzigartig. Und manchmal – öfter als man denkt – kommen einige mit einer etwas schwereren Last: DYS-Störungen, ADS, Autismus, Behinderungen, Lernschwierigkeiten, Lebensverletzungen. Diese jungen Menschen werden allzu oft ausgegrenzt, weil sie nicht in die Norm passen, nicht das richtige Profil haben, als zu zurückhaltend oder zu schüchtern gelten.
Selbstzweifel, Hindernisse, Anstrengung
Diese Worte habe ich oft gehört. Ich habe mich davon anspornen lassen, das Gegenteil zu beweisen. Das konnte ich auch dank meiner Auszubildenden Tanya Allaman, die ich während ihrer dreijährigen Ausbildung begleitet habe. Eine junge Frau mit Legasthenie und Dyskalkulie, der man einzureden versuchte, dass sie für diesen Beruf nicht geeignet sei.

Diese drei Jahre waren eine echte Herausforderung voller Aufgaben, Selbstzweifel, ständiger Anstrengungen und Tricks, um Hindernisse zu umgehen. Es erforderte Energie, Kreativität und eine Prise Geduld. Aber diese drei Jahre waren vor allem menschlich und beruflich sehr bereichernd. Wir haben nie aufgegeben!
Was mir von dieser Ausbildung besonders in Erinnerung bleibt, ist, dass ich Tanya Allaman dabei zusehen durfte, wie sie sich weiterentwickelte, wuchs, lächelte und wieder Selbstvertrauen gewann. Schliesslich sind es Emotionen, Stolz und das Gefühl einer schönen Revanche: Sie hat ihre EFZ-Abschlussprüfung bestanden!
Der Erfahrungsbericht
Diese Erfahrung hat mir klar gemacht, warum ich mich engagiere und warum ich für Gleichberechtigung und Chancengleichheit kämpfen will. Meine Auszubildende Tanya Allaman beschriebt ihre Erfahrungen wie folgt:

«Im August 2021 habe ich voller Hoffnung eine erste Ausbildung begonnen. Aber sehr schnell häuften sich die Schwierigkeiten. Man gab mir keine Chance. Mit meiner Legasthenie und meiner Dyskalkulie erforderte jedes Ziel mehr Anstrengung, Zeit und Verständnis. Leider fand ich nicht das Verständnis und die Unterstützung, die ich brauchte. Das Scheitern war ein schwerer Schlag, eine tiefe Verletzung, als ob meine Bemühungen nichts gezählt hätten. Aber tief in mir wusste ich, dass ich mehr wert war als dieses Scheitern. Also gab ich nicht auf.
Ich beschloss, neu anzufangen und mir eine neue Chance zu geben. Ich begann eine zweite Ausbildung, natürlich mit der Angst, wieder zu scheitern. Drei Jahre voller Hartnäckigkeit, Selbstzweifel, intensiver Arbeit … manchmal auch Tränen, aber auch kleinen Erfolgen. Dieses Mal war alles anders. Ich wurde unterstützt, verstanden und ermutigt. Es war eine unglaubliche Erfahrung. Jede Schwierigkeit wurde nicht als Schwäche angesehen, sondern als Herausforderung, die wir gemeinsam meistern mussten. Und ich habe es bis zum Ende durchgehalten und meinen EFZ-Abschluss gemacht! Es war nicht einfach, aber es war richtig so. Und heute bin ich stolz auf den Weg, den ich zurückgelegt habe, stolz darauf, dass ich nie aufgegeben habe.»
Tanya Allaman
Ausbilden – ein Akt der Weitergabe
Ich möchte es laut sagen: Ausbilden ist ein Akt der Weitergabe, aber auch der Verantwortung. Als Menschen haben wir die Macht, Lebenswege zu verändern, Türen zu öffnen, Schicksale zu wenden. Aber leider haben wir auch die Macht, zu urteilen, zu klassifizieren, auszuschliessen.
Es ist daher an der Zeit, dass wir uns entscheiden, welche Macht wir als Ausbildungsunternehmen verkörpern wollen. Eine Chance zu geben, reicht nicht aus, man muss sie schaffen. Ausbilden bedeutet, eine Tür zu öffnen, anstatt sie zu schliessen, sich verfügbar zu machen, sich anzupassen, anders zu lehren. Es bedeutet, auf den Menschen zu setzen, auch wenn dieses Wagnis riskant erscheint.
Wagen wir diesen Schritt, wagen wir es, ausgetretene Pfade zu verlassen! An alle Ausbilderinnen und Ausbilder richte ich diesen Appell: Öffnen Sie Ihre Türen, öffnen Sie Ihre Herzen, öffnen Sie Ihre Methoden, zeigen Sie Ihre Leidenschaft! Geben wir jedem jungen Menschen eine echte Chance, eines Tages sein EFZ oder sein EBA zu erwerben. Denn hinter jeder Schwierigkeit verbirgt sich ein Reichtum und hinter jedem Erfolg eine Geschichte von Mut.
Mut haben
Gerechtigkeit bedeutet nicht, allen das Gleiche zu geben, sondern jedem und jeder das zu geben, was er oder sie braucht, um voranzukommen. Und Gleichheit bedeutet nicht, so zu tun, als würde man alle gleich behandeln. Es bedeutet, den Mut zu haben, jeden und jede dort abzuholen, wo er steht, um ihn dorthin zu bringen, wo er hinkann. Diesen Kampf führe ich jeden Tag, jedes Mal, wenn ich einen Auszubildenden über seine Ausbildung klagen höre: Weil er sich nicht ausreichend betreut fühlt, oft allein ist oder ausgegrenzt wird. Weil man ihm nicht die Chance gibt, richtig, mit Respekt und Wohlwollen, aber auch mit hohen Anforderungen ausgebildet zu werden. Ja, ich werde weiterkämpfen, denn ich möchte, dass unser Berufsstand sich stärker engagiert.
Wir müssen zu Triebkräften des Wandels werden, weil dieser Kampf gerecht ist und weil er hier beginnt, bei uns in unseren Bäckereien-Confiserien.
Wie Nelson Mandela sagte: «Erfolg bedeutet nicht, niemals zu fallen. Es bedeutet, jedes Mal wieder aufzustehen und weiterzugehen.»
Text und Bilder: Angélique Jannuzzo,
Berufsbildnerin und Filialleiterin der Bäckerei Au Vieux Grenier SA