Simon Reinle ist Bäcker-Konditor in fünfter Generation der Familienbäckerei Stritmatter in Rekingen (AG). Vor rund acht Jahren hat Simon Reinle seinen Koffer gepackt. Seither lebt und arbeitet er in Chile. In einer mehrteiligen Serie gibt er Einblicke in sein Leben in Südamerika und erzählt über seine Erfahrungen in der chilenischen Bäckerei-Konditorei-Branche.
Mein Chef und ich waren uns schnell einig, dass ich die Weiterentwicklung der Produktion fortsetze und die Position des Produktionsleiters übernehme. Neben der Umsetzung von meinen Analysen war ich nun auch verantwortlich für die Produktion mit rund 40 Bäckern und Konditoren. Als Ausländer mit einer komplett unterschiedlichen Arbeitsmentalität war es zu Beginn schwierig, das Vertrauen meines Teams zu gewinnen und gleichzeitig die Erwartungen meines Arbeitgebers zu erfüllen. Mein Tun beschränkte sich nicht nur auf das Konstruieren und Leiten der Produktion sowie auf das Weiterbilden der Mitarbeitenden, es enthielt auch die Betriebsorganisation und die Betriebshierarchie. Diese beiden Themen waren für mich eine grosse Herausforderung.
Kein «Don» sondern ein Schweizer Chef
Chile ist immer noch sehr stark vom Klassenunterschied geprägt. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass Vorgesetzte nach wie vor mit «Don» angesprochen werden und somit für Mitarbeitende praktisch unantastbar sind. Mit einem rein administrativen Studium – meist ohne Berufserfahrung oder Ausbildung im technischen Bereich – machen sie sich kaum die Hände schmutzig, gehen den Problemen aus dem Weg und übernehmen so gut wie nie Verantwortung. Ich aber war und blieb ein Schweizer Chef: Ein typischer Schweizer Perfektionist und strenger Leader, aber immer an der Seite meines Teams. Ein Chef, der Verantwortung übernimmt, aber auch seinen Mitarbeitenden eine Stimme gibt.
Mich mit «Don» anzusprechen, habe ich meinem Team verboten. Am Anfang war das für sie, wie auch für die Chefetage, ein Kulturschock. Dennoch konnte ich nach und nach fast alle von meiner schweizerisch-chilenischen Arbeitsführung überzeugen. Und die Erfolge gaben mir recht. In nur einem Jahr konnten wir unsere Produktion verdoppeln und die Anzahl der Mitarbeitenden steigern. Unsere Bekanntheit wuchs weit über die Stadtgrenzen hinaus und die Medien wurden auf uns aufmerksam. So kam es, dass ich nach mittlerweile zwei Jahren in Chile meinen ersten Gastauftritt im nationalen Fernsehen hatte. Ich erhielt die Möglichkeit die Schweizer Bäckerei-Konditoreitradition in meiner neuen Heimat zu präsentieren. Über die Jahre folgten viele weitere Auftritte in verschiedenen Fernsehsendungen, mit dem Vergnügen einige chilenische Persönlichkeiten, wie zum Beispiel den Präsidenten von Chile, kennenzulernen. Ohne Zweifel eine willkommene und interessante Abwechslung zum Alltag in der Konditorei.
Mein Leben in Chile entwickelte sich ausgezeichnet! Ich hatte von Beginn an gute Freunde und Arbeitskollegen an meiner Seite, die mich bei meinen ersten Schritten in Südamerika, sowie bei den anfänglichen Verständigungsschwierigkeiten, unterstützt haben.
Abwechslungsreiche Natur
Nach all den Jahren bezeichne ich mich immer noch nicht als Stadt Mensch, mit der Zeit habe ich mich jedoch an das Leben in der Sechs-Millionen-Metropole Santiago gewöhnt. Zum Glück besteht die Möglichkeit, jederzeit in die chilenische Natur zu entfliehen. Die Natur macht Chile aussergewöhnlich und ist definitiv einer der Gründe für meine Auswanderung. Kein anderes Land verbindet so viele verschiedene Klimazonen wie Chile, was sich übrigens auch in der Vielfalt an Lebensmitteln widerspiegelt. Von der Atacama-Wüste und den grossen Salzseen im Norden, bis in den Süden nach Patagonien und Feuerland mit riesigen Gletschern und arktischem Klima. Von der Pazifik-Küste, oder den Osterinseln, bis zum Andengebirge mit rund 90 aktiven Vulkanen und schneebedeckten Gipfeln bis 7000 m. ü. M. Richtig gelesen: schneebedeckte Gipfel! Wir haben in Chile Winter mit Schnee und einigen Skigebieten, fasst wie in der Schweiz, nur dass bei uns der Winter von Juni bis August dauert. So trainieren verschiedene europäische Ski-Teams – darunter auch die Schweizer Ski-Cracks – während dem europäischen Sommer für die kommende Wettbewerbssaison in Chile. …
… Teil 3 erscheint im «Panissimo» Nr. 15 vom 12. August 2022.