Unser Nahrungsangebot ist so weit gefächert wie noch nie. Wer macht sich beim Anstehen in der Bäckerei schon Gedanken, ob man sich das feine Gipfeli leisten soll? Die Brezel, das Mutschli, das Pfünderli weiss, den Zopf?
Doch es ist noch nicht so wahnsinnig lange her, als die meisten Menschen ihr Weissbrot nur zu besonderen Gelegenheiten geniessen konnten und am Sonntag vielleicht den Zopf. Das Mehl war gröber gemahlen, ein Ruchmehl, und dann während Jahrhunderten oft vermischt mit anderem, günstigerem Mehl. Etwa Ackerbohne. Kartoffel. Gerste. Oder Roggen, den die Römer brachten. Zwar verachteten sie dieses rustikale Getreide aus Vorderasien, doch Roggen «wächst in jedem Boden, bringt etwa das hundertfache Korn und dient dem Acker zur Erholung», wie Plinius in seinem monumentalen Werk «Naturalis historia» festhielt. Als «die geringste Kornart» sei Roggen geeignet, «den Hunger zu stillen». Immerhin.
Plinius hätte wohl gestaunt, welch schmackhafte Brote man mit Roggen backen kann. Im kulinarischen Erbe der Schweiz lassen sich prächtige Beispiele finden. Das Walliser Roggenbrot AOP mit einem kleinen Anteil Weizen, das es aber auch unvermischt gibt; das Freiburger Rua-Brot, flach und scheibenförmig, einst wohl ein reines Roggenbrot, das entsprechend der Wirtschaft zusehends mit teurerem Mehl verfeinert wurde; das Paun jauer oder sejel aus dem Val Müstair oder die Brasciadèla, das Puschlaver Ringbrot mit Roggen- und Weizenmehl, gewürzt mit Anis.
Ein Brot zwischen Extremen ist die Fiascia im Maggiatal. Ursprünglich aus Kastanienmehl, weil Getreide im kargen Alpental unerschwinglich war, wurde es dank wachsendem Wohlstand mit Roggen- und Weizenmehl veredelt. Heute ist die Fiascia fast verschwunden, und wo es sie noch gibt, mauserte sie sich von der Armenkost zum Luxusgut. Denn «wenige von denen, für die sie bestimmt war, trauern ihr nach, dafür aber viele, die sie nie oder fast nie gegessen haben», schrieb Martino Giovanettina, Wirt und Publizist im Val Bavona, in seinem Buch «Der Geruch der erloschenen Glut».
Paul Imhof
Paul Imhof, 1952, ist Journalist und schrieb unter anderem für die Sonntagszeitung, den Tages-Anzeiger und das Magazin GEO. Zudem verfasste er mehrere Bücher über Essen und Trinken und wirkt seit Beginn beim Projekt «Kulinarisches Erbe der Schweiz» mit.

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Zusammen mit Paul Imhof verlost Panissimo zwei Exemplare von «Das kulinarische Erbe der Schweiz». Angaben zur Verlosung finden Sie im Panissimo vom 30. Mai.