Anstatt die Formel-E im Voraus abzulehnen, machten die Geschäftsführer vom Obstberg Beck (Bern) Cornelia und Matthias Roth das Beste aus der Situation – und profitierten. Auf das Bauchgefühl zu hören zahlte sich aus.

Eines Tages lag ein Informationsblatt im Briefkasten. Formel-E-Prix im Obstberg-Quartier, Informationsabend. Wow, das gibt eine Heraus-
forderung für unsere Bäckerei! Im Internet informierten wir uns, was über die Formel-E geschrieben wird. Eindrückliche Videos über das Rennen mit vielen Zuschauern zeigten uns, da kommt etwas Grosses auf das Quartier zu. Am ersten Infoabend warteten fast 200 Personen voller Erwartungen und Skepsis auf die Ausführungen der Organisatoren. Die Informationen waren sehr ausführlich, viele der anwesenden Bewohner fühlten sich vor den Kopf gestossen. Da kamen sehr kritische Fragen und grosse Ablehnung auf, es wurde richtig gehässig. Das hat natürlich ein Echo in der Presse ausgelöst.

Tausende von Betonelementen

Das Obstberg-Quartier, wo unsere Bäckerei steht, wurde bis zum Rennbeginn am 21. und 22. Juni 2019 mit der spektakulären Rennstrecke-Führung richtiggehend abgeriegelt. Tausende von Betonelementen und Sicherheitszäune wurden entlang der Rennstrecke aufgestellt. Zuschauertribünen und Personenpasserellen wurden errichtet, kilometerlange Elektro- und Fernsehkabel gelegt, Grossleinwände montiert usw.

Auf Bauchgefühl hören

Viele Quartierbewohner machten sich grosse Sorgen um unsere Bäckerei, dass wir wegen der Abschottung keine Kunden mehr hätten und ob wir die Bäckerei deshalb gerade schliessen würden. Unser Bauchgefühl kam zum ersten Mal ins Spiel. Auf dieses haben wir immer gehört, auch wenn es mit dem nahenden Tag X fast unerträglich wurde wegen der sehr negativen Stimmung, die sich im Quartier breit machte. Alle wären gut informiert gewesen, hätte man sich dafür interessiert und nicht die Infobroschüre aus Wut und Abneigung weggeschmissen.

Bäckerei wird zum Info-Center

Täglich stehen wir alle in unseren Betrieben vor neuen Herausforderungen. Alles Wichtige haben wir abgeklärt und uns so eingerichtet. Als Entschädigung für die Umstände erhielten wir einen Platz für einen Verkaufsstand, mit bester Sicht auf die Rennstrecke. Trotz Auskunftsbüro im Quartier wurde unsere Bäckerei auch zum Auskunfts- und Infocenter. Die in der Bäckerei wissen ja Bescheid … Für unser Verkaufspersonal wurde es zunehmend anstrengender, all die Fragen zu beantworten. Sie mussten sich vieles anhören, nicht nur Schönes! Unser Bauchgefühl sagte uns wieder: nicht nachlassen, Konzept beibehalten und durchziehen!
Für den Anlass haben wir uns auf Backwaren aus unserem Standardsortiment festgelegt. Mit jedem Tag, an dem das Quartier mit den Betonelementen mehr abgeriegelt wurde, spürte man bei den Bewohnern das Unbehagen des Eingeschlossenseins. Man konnte allerdings zu jedem Zeitpunkt das Quartier zu Fuss verlassen. Für Notfälle war alles organisiert!

Der Tag X

Dann war der Tag X da: Genau auf die letzte Minute passiere ich als letzter unseren Sondereinfahrtspunkt, alle Lieferungen gemacht – das ist unser Tagessieg mit Bestzeit! Der Aussenstand ist eingerichtet und aufgefüllt, schon pfeilen die ersten Elektroboliden den Muristalden mit etwa 180 km/h hoch. Faszinierend, eindrücklich, imposant! Die Besucher strömen zur Aussichtsplattform, kleine Kinder rufen: «Papi, schau die coolen Rennautos!» Geschafft! Vor unserer Bäckerei sind sämtliche Notfallfahrzeuge als Notfallstützpunkt aufgestellt. Ein Riesenfest, all die Kinder dürfen ins Feuerwehr-, Drehleiter-, Sanitäts- und Polizeiauto klettern. Einen so grossen Ansturm, der bis am Abend anhielt, hatten wir noch nie. Für das Finalrennen, das eben doch faszinierend ist, sind fast alle Quartierbewohner an die dafür vorgesehenen Aussichtpunkte geströmt. Das Quartier ist leergefegt. Die Bäckerei ist geschlossen, die restlichen Backwaren befinden sich alle im Aussenstand. Die Bilder auf der Grossleinwand, die gezeigt werden und um die Welt gehen – einfach super!
Fazit: Ein grosser Anlass, der ökologisch sicher zwiespältig war, klare Vorgaben hatte und für uns eine Herausforderung war. Aber eines kam uns immer zugute: ein gesunder Menschenverstand und das Hören auf das Bauchgefühl!

Der 60-jährige Matthias Roth ist Eidg. dipl. Bäcker-Konditorenmeister. 1992 übernahm er zusammen mit meiner Frau Cornelia und Ueli Röthlisberger von dessen Bruder Hermann Röthlisberger den Obstberg Beck, eine Quartierbäckerei im gleichnamigen Berner Quartier.

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